Scheitert der Familienartikel in der Volksabstimmung? Eine Einschätzung

Die „SRG-Trend“-Studie, welche das gfs.bern diese Woche veröffentlicht hat, zeigt auf, dass die Opposition gegen den Familienartikel markant gewachsen ist. Der Anteil der Befragten, welche — wenn am nächsten Tag abgestimmt würde — sicher oder wahrscheinlich ein Ja eingelegt hätten sank von 66 Prozent (Mitte Januar) auf 55 Prozent (Mitte Februar). Gleichzeitig stieg der Anteil derjenigen, welche bestimmt oder eher dagegen sind von 23 auf 35 Prozent. Gemäss den Forschenden des gfs.bern ist dies eher unerwartet. So schreiben sie auf Seite 45 der Trendstudie:

Der Ausgang ist zwischenzeitlich ungewiss, denn die Polarisierung von rechts fiel stärker als erwartet aus. Setzt sich der eingesetzte Trend ungebremst fort, kann die Vorlage in der Volksabstimmung auch scheitern. War er dagegen eher ein vorübergehendes Phänomen, das mit der Parolenfassung der SVP und ihrem Hauswurf einsetzte, kann die Mehrheit bestehen bleiben. Für Ersteres spricht die ausgelöste Verunsicherung, für Letzteres, dass der Meinungswandel typisch für konservative Rechtskreise ist, die CVP aber nicht relevant erfasst hat.

Es stellt sich also die Frage, ob die Zustimmungsrate zur Vorlage aufgrund der verstärkten Kampagne der Gegnerschaft gesunken ist und auf tieferem Niveau stabilisiert wird, oder, ob die Kampagne weiterhin eine starke Erosion der Zustimmungsrate verursachen wird. Meiner Ansicht nach liegt der Grund für die starke Verschiebung der Zustimmungsrate zwischen den beiden Trendanalysen primär darin, dass die Vorlage lange kaum debattiert wurde und erst in den letzten Wochen mehr Aufmerksamkeit erhielt. Bis vor kurzem wussten viele noch nicht, was der Familienartikel genau regelt. Da Familie ein positiv besetzter Begriff ist, waren viele Befragte einfach mal dafür. Inzwischen setzte die Debatte ein und es gelang, diejenigen, welche (1) eine wertkonservative Haltung (Familie/Geschlechterrollen) und/oder (2) eine kritische Haltung gegenüber dem Sozialstaat (mögliche Kostenfolgen) einnehmen, auf die Nein-Seite zu ziehen.

Damit reiht sich die Debatte um den Familienartikel in ein Muster ein, dass wir bereits bei anderen Vorlagen beobachten konnten, welche unter anderem das Ziel verfolgten, die Vereinbarkeit von Familie und Beruf zu erhöhen. Ich denke da an die Mutterschaftsversicherung oder auch an die kantonalen Ratifikationsverfahren zum HarmoS Konkordat. Gerade bei der Schulharmonisierung war in den meisten kantonalen Parlamenten eine komfortable Mehrheit für die Vorlage. In den Kantonen, in denen eine wertkonservative Haltung dominiert, scheiterte die Vorlage dann nach intensiven Debatten über „Staatskinder“ und Früheinschulung aber am Referendum.

Kampagnen beeinflussen nicht die Werte der Stimmenden, sie aktivieren vorhandene Prädispositionen (wie wir im Fachjargon sagen) und lenken die Aufmerksamkeit auf bestimmte Aspekte der Vorlage. Somit zeigen die Resultaten der Trend-Studie wohl nicht einen ungebremsten Abwärtstrend, sondern eher eine einmalige Verschiebung als Folge des Einsetzens der öffentlichen Debatte. Trotzdem ist ein Scheitern des Familienartikels nach wie vor möglich. Wahrscheinlich wird es aber nicht am Volksmehr fehlen, sondern eher am Ständemehr.

Erinnern wir uns an die Abstimmung zur Mutterschaftsversicherung von 2004. Damals stimmten 55.5 Prozent der Stimmenden für die Gesetzesvorlage. 11 Kantone und 4 Halbkantone lehnten sie aber ab und nur 9 Kantone und 2 Halbkantone sagten Ja. Wäre — wie beim Familienartikel — das Ständemehr erforderlich gewesen, wäre die Vorlage also gescheitert. Und damals hatte sich ausser der SVP keine grosse Partei dagegen gestellt und die Wirtschaftsverbände hatten Stimmfreigabe beschlossen. Natürlich kann man jetzt sagen, dass die Abstimmung 10 Jahre her ist und man könnte daher hoffen, dass sich inzwischen modernere Familienbilder stärker durchgesetzt haben. Allerdings ist dies nur bedingt der Fall, wie ein Vergleich der kantonalen Zustimmungsraten zur Mutterschaftsversicherung 2004 und zum HarmoS-Konkordat (2008-2011) zeigt (Grafik 1).

Grafik1

Grafik 1: Schwarz markiert sind Kantone, welche über HarmoS abgestimmt haben. Grüne Punkte markieren Kantone, in denen keine Volksabstimmung zum HarmoS-Konkordat stattfand. Auf der Y-Achse abgetragen ist in diesem Fall die Zustimmungsrate im Parlament. Die langgezogenen grünen Balken stehen für Kantone, in denen die genaue Zustimmungsrate nicht bekannt ist. An den Landsgemeinden in Glarus und Appenzell Innerrhoden war eine grosse Mehrheit dafür respektive dagegen. In SZ und AG  ist das Parlament formell nicht auf die Debatte der Vorlage eingetreten (Eigene Zusammenstellung und Darstellung).

Grafik 1 verdeutlicht, wie stark die kantonalen Gräben bezüglich einer fortschrittlichen Familienpolitik in der Schweiz sind. Vor allem in den Ost- und Zentralschweizer Kantonen (mit Ausnahme von Zürich) wird es der Familienartikel schwer haben. Dort ist die Stimmbürgerschaft für die Kampagne der Gegner besonders empfänglich. In der Westschweiz wird sich kaum jemand daran orientieren. Dies zeigt auch der Bericht von gfs.bern (S. 43): Während die Zustimmungsraten zum Familienartikel in der Deutschschweiz von 64 auf 52 Prozent sank, verringerte sie sich in der französischsprachigen Schweiz nur um 3 Prozentpunkte (von 70 auf 67 Prozent).

Glarus stellt in der Grafik eindeutig ein Ausreisser dar (hohe Zustimmung zu HarmoS, hohe Ablehnung der Mutterschaftsversicherung). Der Fall stützt aber mein Argument. In Glarus gab es vor und während der Landsgemeinde zur HarmoS-Vorlage keine Debatte über Staatskinder, Früheinschulung oder über Tagesstrukturen. Hier wurde „nur“ über die Schulharmonisierung abgestimmt und das fand die Mehrheit gut. Ganz anders einen Monat zuvor in Appenzell Innerrhoden: eine Mutter ergriff an der Landsgemeinde das Wort, thematisierte diese Aspekte und prompt folgte ihr die Versammlung. Wohl ein Fanal damals für die Befürwortenden der traditionellen Familien: sie lancierten in der Folge verschiedene Referenden und öffentliche Kampagnen gegen HarmoS, welche primär auf diesen Aspekt hinwiesen. Durchsetzen konnten sie sich aber nur dort, wo ihre Argumente auf fruchtbaren Boden stiessen. HarmoS  wurde in allen Kantonen, welche sich für die  Mutterschaftsversicherung ausgesprochen hatten, angenommen.

Zu erwarten ist, dass es auch bei der Abstimmung zum Familienartikel wieder einen klaren Graben  zwischen verschiedenen „Schweizen“ gibt und sich ein Teil der Kantone klar gegen die Vorlage aussprechen wird. Für mich als Befürworterin des Artikels bleibt nur zu hoffen, dass es nicht genügend sein werden, um den Artikel am Ständemehr scheitern zu lassen.