Einige Gedanken zum #Aufschrei-Phänomen

Ausgelöst durch den Bericht einer Journalistin über anzügliche Bemerkungen des Kanzlerkandidaten Brüderle, gelang es einigen Kolleginnen über Twitter unter dem Stichwort #Aufschrei im deutschsprachigen Raum eine höchste öffentlichkeitswirksame Kampagne gegen Sexismus zu lancieren: Nicht nur, äusserten sich innert kürzester Zeit zehntausende von Personen im Internet-Netzwerk zum Stichwort, es wurden auch viele persönliche Blogs verfasst und die Medien berichteten ausführlich On- und Offline. Das Thema wurde in Talkshows, in den Nachrichten, in Hintergrundsberichten und in den Kommentarspalten abgehandelt. (Für einige Zusammenstellungen  siehe  http://seeliger.cc/2013/artikelsammlung-aufschrei/ sowie für die Deutschschweiz http://philippe-wampfler.com/2013/02/01/aufschrei-eine-medienschau/).

Der Proteststurm auf Twitter gekoppelt mit der parallelen Diskussion über das Verhalten eines Spitzenpolitikers, erhielten sehr rasch ein Eigenleben. Verschiedene parallele und teilweise verknüpfte öffentliche Debatten entstanden: über die Rolle der Medien, über die Definition von Sexismus, über die Umgangsformen zwischen Männern und Frauen ganz allgemein sowie über die Legitimität, Motive und Kohärenz der Betroffenen, die auf Twitter ihre Erfahrungen mit Sexismus und sexuellen Übergriffen mitteilen.

Als Bewegungsforscherin finde ich es äusserst spannend, dieses Phänomen zu beobachten. Und, es stellen sich für mich einige Fragen. Beispielsweise, ob es sich beim #Aufschrei Proteststrum um eine Bewegung handelt,  wie erfolgreich ist dieses Phänomen ist und wie nachhaltig es sein kann.

Die Antworten auf diese Fragen hangen davon ab, wie Bewegung, Erfolg und Nachhaltigkeit definiert werden. In Anlehnung an den bekannten Bewegungsforscher Charles Tilly bevorzuge eine Arbeitsdefinition, welche mehrere Faktoren einer sozialen Bewegung ins Zentrum stellt: (1) das Vorhandensein eines Grundkonsenses bei den Beteiligten über (2) einen gesellschaftlichen Missstand, der (3) mittels öffentlichkeitswirksamer kollektiven Aktionen (Protestereignisse) Verbreitung finden soll. Finden solche Aktionen im Rahmen einer breiten Kampagne (4) wiederholt statt und werden über eine gewisse Zeit aufrecht erhalten, in dem die beteiligen Aktivistinnen und Aktivisten (5) Mobilisierungsstrukturen in Form von Netzwerken, Organisationen und Koordinationsplattformen nutzen und/oder aufbauen, würde ich von einer sozialen Bewegung sprechen.

Das Einordnen des #Aufschrei Phänomens in diese Definition ist auch wieder eine Ermessenfrage. Die Kriterien 1-3 sind meiner Einschätzung nach klar erfüllt. Viele KommentarorInnen kritisieren zwar, das Vermischen von ‚harmloseren’ Formen des Sexismus, wie eben anzügliche Bemerkungen und von ‚extremem’ Straftatbeständen, wie Vergewaltigungen und Kindsmissbrauch. Dennoch scheint mir, dass bei denjenigen, die bei der Aktion mitgemacht haben, einen Grundkonsens darüber besteht, dass Sexismus ein Problem ist, welches mehr Beachtung finden soll. Zu erwarten, dass all diejenigen, welche bei einer derart dezentralen kaum koordinierten Aktion mitmachen, aus einem Mund sprechen und identische Ziele verfolgen, wäre vermessen.

Beim 4. und 5. Kriterium bin ich mir nicht ganz sicher: Einerseits dauerte die #Aufschrei Kampagne eine Weile an und es wurden bestehende lose Netzwerke (insbesondere die sehr lose Form der sozialen Internetnetzwerke Twitter und Facebook) genutzt, andererseits sehe ich derzeit aber kaum Bemühungen, längerfristige und gezieltere Mobilisierungstrukturen aufzubauen, mit denen weitere – auch andersgeartete –Protestaktionen entwickelt und verbreitet werden könnten. (Ich habe das allerdings auch nicht systematisch untersucht und es könnte durchaus sein, dass solche Bemühungen stattfinden.) Ich würde den Twitterstrum deshalb eher als eine einzelne, wenn auch länger anhaltende, Protestaktion bezeichnen denn als soziale Bewegung. Allenfalls, könnte man #Aufschrei als neue Protestform und Teilkampagne im Rahmen der bestehenden feministischen Bewegungskampagne gegen Sexismus klassieren.

Wie erfolgreich und nachhaltig ist das Ganze? Ein naheliegendes Kriterium zur Beurteilung des Erfolgs solcher Protestaktionen ist, wie viele Personen sich daran beteiligen (1). Sicher ist es einfacher, viele Personen für eine Äusserung auf Twitter zu mobilisieren und man darf deshalb die Zahl der Beteiligten nicht eins zu eins mit Zahlen von Demonstrationen vergleichen. Dennoch spricht einiges dafür, dass es sich hier in diesem Punkt um eine ausserordentlich erfolgreiche Protestaktion handelt.

Ein weiteres, und in meiner Sicht sogar wichtigeres Kriterium ist, inwiefern die Aktionen, die Bewegten und vor allem auch ihre Inhalte, in der breiten Öffentlichkeit Beachtung erhalten und weiterführende Debatten auslösen (2). Hier ist der Erfolg ganz klar gegeben. Die Medien berichteten ausführlich und sehr verbreitet. Dazu dürften mehrere Faktoren beigetragen haben:  die Grösse und Neuartigkeit der Aktion sowie der Fakt, dass am Anfang der Aktion ein Bericht über das Verhalten eines Spitzenpolitikers stand.

Von nachhaltigem Erfolg würde ich dann sprechen, wenn es gelingt in dieser Öffentlichkeit ein Bewusstsein für den angesprochenen Missstand zu etablieren (3), und damit in der längeren Frist Werte und Verhalten zu beeinflussen (4). Um diese Kriterien zu bewerten ist es noch zu früh. Die vielen, teilweise auch sehr reflektierten, Beiträge in On-und Offline Artikeln deuten jedoch darauf hin, dass durchaus auch nachhaltigere Sensibilisierungseffekte resultieren könnten. Inwieweit diese allerdings verbreitet zu einem Umdenken bezüglich Sexismus in der Gesellschaft  beitragen, ist schwer zu sagen.

Die Nachhaltigkeit einer Bewegungskampagne ist schliesslich auch dadurch zu bewerten, ob die aufgebauten Mobilisierungsstrukturen auch für zukünftige Protestkampagnen genutzt werden können (5). Sicher gelang es durch den Twittersturm, die losen feministischen Netzwerke im Internet stärker zu verknüpfen und es dürfte wohl auch in Zukunft möglich sein, ähnliche Aktionen zu starten, sofern die Rahmenbedingungen gut sind (z.B. eben prominente Auslöser). Da die Neuartigkeit des Phänomens nicht mehr gegeben sein wird, wird es aber sicher schwierig, den Medienerfolg des #Aufschrei-Sturms zu wiederholen.