Gestern, fast 22 Jahre nach dem Nein zum EWR, haben sich die Europaskeptiker erneut durchgesetzt. Eine knappe Mehrheit der Schweiz ist nicht bereit, die gesellschaftlichen Kosten der vollen Integration der Schweiz in den Europäischen Wirtschaftsraum zu tragen. Gleichzeitig ist sie auch bereit, auf deren Nutzen zumindest teilweise zu verzichten. Warum ist das so?

Eine Erklärung ist, dass diejenigen, denen die Integration nutzt, und diejenigen, die die Kosten tragen, nicht dieselben sind. Volle Integration nutzt den hoch gebildeten, mobilen und anpassungsfähigen Personen. Sie können mit wirtschaftlichem und gesellschaftlichem Wandel umgehen und davon profitieren. Die Kosten tragen die, die vom Strukturwandel überrollt werden, deren Ausbildung nicht mehr honoriert wird und deren Werte immer mehr in Frage gestellt werden. Eventuell übersteigen die Kosten den Nutzen. Eventuell sind die Umverteilungsmechanismen in der Schweiz nicht stark genug, um die Verlierer der Globalisierung entsprechend zu entschädigen. Eine kürzlich erschienene Studie des BFS zeigt auf, dass sich der Mittelstand in der Schweiz eher vergrössert hat, was dieser Interpretation allerdings widersprechen würde. Vielleicht sind einfach die Umverteilungsmechanismen nicht transparent genug, so dass die Verlierer gar nicht wahrnehmen, wie stark sie an den Gewinnen des offenen Marktes trotz allem teilhaben. Wir wissen es nicht.

Eine andere Erklärung ist, dass es weniger mit rationalen Kosten/Nutzen-Überlegungen zu tun hat als mit politischer Interpretationsmacht. Da der Stimmbürgerschaft die effektive Kosten/Nutzen-Verteilung nur unzulänglich bekannt ist, orientiert sie sich an den Interpretationen der politischen Elite. Sie tut dies allerdings nicht blind. Sondern sie gleicht die herumgereichten Positionen mit den eigenen Beobachtungen, Erfahrungen und Werten ab. Es gewinnt dabei nicht diejenige Interpretation, die am besten durch Fakten, Statistiken und Berechnungen abgestützt ist, sondern diejenige, die dem Weltbild des oder der Stimmenden am meisten entspricht. Wenn nun eine gewiefte politische Kraft verspricht, dass man die Kosten der Integration nicht tragen muss, aber nur bedingt auf deren Nutzen verzichten muss, dann ist die Versuchung gross, dieser Interpretation zu folgen. Schliesslich ist die Schweiz mit dieser Strategie lange Zeit gut gefahren. Da es zudem gelang, die Gegeninterpretation, nämlich dass die Reise auf dem Trittbrett in Zukunft nicht mehr möglich sein wird, in Frage zu stellen, konnte sich die gewiefte politische Kraft gegen die gesamte restliche Polit- und Wirtschaftselite durchsetzen.

Es stellt sich die Frage, wie überzeugt diese gewiefte politische Kraft von ihrer eigenen Interpretation ist. Geht es dabei primär um die Sicherung politischer Machtansprüche oder glaubt sie effektiv daran, dass ihre eigene Interpretation der Mehrheit im Lande nutzt? Nachdem sie die EWR-Abstimmung gewonnen hatte, gelang es der SVP, zur grössten politischen Kraft des Landes zu werden. Sie bekämpfte allerdings die bilateralen Verhandlungen nicht mit derselben politischen Konsequenz wie den EWR, was darauf hindeutet, dass sie zumindest teilweise  Zweifel an ihrer Vorteile-des-Abseitsstehens-Interpretation hegte. Mit der Abwahl Christoph Blochers aus dem Bundesrat, versuchten die anderen Parteien, den Machtanspruch der SVP zu begrenzen. Deren Schadenfreude war damals ähnlich gross, wie diejenige der SVP als gestern das Schlussresultat zur Masseneinwanderungsinitiative bekannt wurde. Es gibt also zumindest Anzeichen dafür, dass weniger der Wohlstand des Landes als politische Machtansprüche im Vordergrund der gereichten Interpretation stehen: aus den Verlierern wurden wieder Gewinner.